EINE TRÄNE IM SCHWANENSEE – „Zwischen Mitternacht und Morgen“ im Staatstheater Darmstadt

artwork: photos4dreams
Das Darmstädter Publikum hatte es offensichtlich nicht gewagt, sich den Traum vom klassischen Tutu-Ballett Schwanensee nehmen zu lassen oder ihn neu zu träumen: das Große Haus des Staatstheaters ist am Mittwoch, den 12.05.2010, dem Premiere-Tag des Wiesbadener Gastspiels „Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee“, nur halb besetzt.
Stephan Thoss’ Adaptation des Ballettklassikers rückt die Beziehung von Odette und Rotbart in den Vordergrund. Siegfried ist hier nur eine Randfigur.
Odette liebt Rotbart, ist „verzaubert“. Zunächst sieht es so aus, als würde Rotbart ihre Liebe erwidern: sie bewegen sich harmonisch, zärtlich in der Öffentlichkeit. Sie folgt ihm. Doch im Laufe des ersten Akts zeigt sich immer mehr, dass Rotbart sie zu benützen scheint und sie vor den Anwesenden vorführt. Ihre Bewegungen werden dissonanter und abgehackter, bis er sie tatsächlich von sich stößt. Sie ist tief getroffen und flieht in die Einsamkeit.
Im Schutze einer solitären Träne auf der Bühne wird aus dem strahlenden Schmetterling ein leidender Schwan mit einem zerfransten Federkleid.
In den von Federn überdachten leeren Raum dringen mehr und mehr leidende Schwangestalten ein, männliche wie weibliche, halbnackt und gezeichnet. Sie machen Odette zu einer von ihnen, teilen ihre Trauer. Ihre Flügel wirken gestutzt, sie können nicht fliegen und bewegen sich ungelenk.
In diesem Raum findet Siegfried die geschwächte Odette. Er benötigt viel Zeit, um ihre Schmerzen zu lindern und ihr Vertrauen und schließlich ihre Liebe zu gewinnen.
Auf der nächsten Feier erscheint Rotbart mit einer neuen Frau: der berauschenden Schönheit Odile, die angedeutet ein schwarzes Federkleid trägt und keinerlei Ähnlichkeit mit Odette besitzt. Rotbart bietet sie dem einsamen Siegfried an und dieser lässt sich verführen und betrügt damit seine „Schwanenkönigin“, die gerade auf der Feier erschienen ist. Sie bricht daraufhin zusammen und flieht in ihren federbeschützten Raum zu den Mitleidenden zurück.
Hier kommt es zur Konfrontation mit Siegfried aber auch mit Rotbart, der sie offensichtlich nicht vergessen kann. Er ringt um ihre Liebe, sticht Siegfried aus, wirft sich ihr zu Füßen. Sie erhebt sich endlich, kämpft gegen ihn und ihre Liebe zu ihm an. Am Ende sind sie beide alleine – es bleibt nur Schweigen. Nicht so im Publikum: rasender Applaus und Bravorufe holen die Darsteller immer wieder auf die Bühne.
Die Solisten sind zu jedem Zeitpunkt kraftvoll überzeugend. Der Zuschauer wird mitgerissen, erlebt die tragische Leidenschaft hautnahe, liegt mit der Protagonistin am Boden und steht mit ihr wieder auf.
Die Version der Geschichte sowie die Choreographie sind eigenwillig und bewegend und bringen völlig neue Aspekte der wunderbaren Tschaikowski-Musik hervor, die auch das junge Publikum berühren. Das traumverlorene Märchen vom Schwanensee ist in die Jetzt-Zeit übersetzt, das ätherisch-entrückte Leid der Schwanenkönigin ist aktuell und fühlbar geworden, der Schwanensee zunächst ein Tränensee, dann ein stiller Raum gegen die raue Wirklichkeit, in den man sich zurückziehen kann, in dem man getröstet und beschützt wird. Die Kulisse und Kostüme sind gewohnt spartanisch aber die Stimmungen sehr gut reflektierend eingesetzt.
Insgesamt ist die Adaptation ein nachdenklich machender, verführerischer und sich sehr lohnender Blick in die Tiefen des Schwanensees.

Susannah V. Vergau

Ballett in vier Akten, Musik von Peter I. Tschaikowsky,
Odette: Eve Ganneau | Rotbart: Kenneth Pettitt | Siegfried: Zen Jefferson | Odile: Xanthe Geeves und das Ballett des Hessischen Staatstheaters Wiesbaden;
Musikalische Leitung Lukas Beikircher | Choreografie Stephan Thoss | Bühne und Kostüme Tina Kitzing

Copyright © Susannah V. Vergau

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